Karlsruhe (mt) – Auch hier im Südwesten kommt es zu immer mehr Coronainfektionen mit der Delta-Variante. Trotzdem bleiben die Zahlen der Patienten auf den Coronaintensivstationen bisher weiterhin niedrig – in Karlsruhe zum Beispiel war das Städtische Klinikum am Mittwoch das erste Mal seit September coronafrei. Mit Blick auf eine mögliche vierte Welle, aber auch den täglich steigenden Impfungen stellt sich allerdings die Frage, ob der bisher stark gewichtete Inzidenzwert tatsächlich noch als Richtlinie für weitere Maßnahmen dienen sollte. Wir haben mit einem Experten gesprochen.
„Die Inzidenzzahlen sind im Augenblick noch primär wichtig, um zu sehen, was passiert“, erklärt Michael Geißler, der Geschäftsführer des Städtischen Klinikums. „Aber die Inzidenzzahlen werden nicht mehr das widerspiegeln – was ja politisch entscheidend ist, was auch Maßnahmen begründet, also Einschränkung der persönlichen Freiheit – nämlich die Überlastung des Gesundheitssystems“, so der Mediziner. Das ist trotz allem kein Grund sich momentan auszuruhen, denn auch die Impfquote ist von Bedeutung: „Wir sind in Deutschland leider bei der Impfung noch nicht so weit wie die Briten und die Israelis. Das wird jetzt dazu führen, dass in den nächsten Wochen die Delta-Variante das Ruder in Deutschland über nehmen wird“, führt der Klinkumschef aus.
Und gerade da ergeben sich durch die Delta-Variante weitere Probleme. Denn die Impfungen wirken nicht mehr so effektiv gegen die neue Mutante, wie es noch bei Alpha der Fall war: „Vor der Delta-Variante war es in der Tat so, dass insbesondere die mRNA-Impfstoffe, aber auch AstraZeneca einen sehr hohen Schutz gegen eine Infektion hatten – nämlich weit über 90 Prozent, aber eben auch gegen den schweren Verlauf. Mit Delta verschiebt sich das jetzt ein bisschen. Bei Delta geht der Schutz gegen die Infektion deutlich nach unten, über 30 Prozent.“ Diese Entwicklung zeigen zum Beispiel Daten aus Israel. Dort hatte die Biontech/Pfizer-Impfung bisher einen Schutz von 96 – 97 Prozent. Mit dem Auftreten der Mutante ist diese aber jetzt auf 64 Prozent abgerutscht.
„Das ist natürlich noch mal wirklich ein richtiger Absturz. Aber der Schutz vor schweren Verläufen, vor Intensivaufenthalten, vor schweren Lungenentzündungen bleibt bei 93 – 94 Prozent“, beruhigt Geißler. „Und das ist jetzt natürlich für uns Kliniken und letztendlich auch für die Maßnahmen, die eventuell getroffen werden ein ganz wichtiger Punkt. Denn das Entscheidende sind für uns Kliniken und auch für das Gesundheitssystem die schweren Verläufe“, so der Mediziner. Denn genau die seien der Grund für die großen Probleme insbesondere in der ersten und zweiten Welle gewesen. „Deswegen sind die Impfungen extrem wichtig, weil wir durch die Impfung eben sicher stellen, dass das Gesundheitssystem, selbst wenn die Infektionslage von den Inzidenzzahlen hoch ist, nicht überlastet wird. Das zeigen jetzt die Daten aus Israel und Großbritannien“, erklärt der Klinikumschef.
Auch wenn jetzt die Impfungen noch zu niedrig sind, ist sich Geißler aber sicher, dass wir bis zum Herbst alle Impfwilligen geimpft haben werden: „Ob wir die 80 – 85 Prozent erreichen, da bin ich skeptisch. Weil viele Mitbürger glauben: ‚Es ist jetzt alles gut. Die Inzidenzzahl liegt bei fünf. Ich brauche mich nicht impfen lassen.‘ Das ist falsch! Das Entscheidende ist schon, dass sich jetzt möglichst viele impfen lassen, damit eben die persönliche Freiheit auch bleibt“, sagt der Mediziner. Mit dem Blick auf unsere niedrige Impfquote hält der Klinikumschef unsere Maßnahmen noch für richtig. Sobald wir allerdings eine Impfquote zwischen 75 – 80 Prozent haben sollten, müssten wir in den Augen von Geißler Regelungen wie die Maskenpflicht wieder aufheben. Das haben bereits die Briten vorgemacht. Trotz allem sollte auch beim jetzigen Stand aus Sicht des Mediziners aber eine Sache auf jeden Fall unangetastet bleiben und zwar die Schulen. Dort sollte der Präsenzunterricht weiterhin normal stattfinden.
„Die Belegung der Intensivbetten und der Normalstationsbetten in Krankenhäusern ist der entscheidende Gradmesser dahingehend, ob die Pandemie ernst zu nehmend ist und auch Maßnahmen im Infektionsschutz einzuleiten sind, aber die Inzidenzzahl dürfte aus meiner Sicht keine Rolle mehr spielen“, so lautet das Fazit des Experten zu der Frage, ob die Inzidenzen auch längerfristig weiterhin als Richtlinie für Maßnahmen gelten sollte. Alles in allem sieht Geißler aber hoffnungsvoll in die Zukunft: „Ich prognostiziere, dass wir mit dem Coronavirus in den Kliniken und den Arztpraxen so leben werden, wie mit anderen Viren auch. Also keine besonderen Maßnahmen durchführen, sondern einfach isolieren wie eine Influenza oder andere Viruserkrankungen auch. Und das wird eine Art Normalität werden. Insofern ist das etwas, was uns dann nicht mehr so erschreckt“, erklärt der Klinikumschef. Auch die Booster-Impfung der kommenden Jahre stimmt den Mediziner optimistisch: „Ich bin eigentlich sehr zuversichtlich, dass diese Corona-Pandemie für uns keine relevanten Einschränkungen mehr nach sich ziehen wird und dass wir einfach lernen werden, mit diesem Virus zu leben.“