Karlsruhe (pm) Manchmal können wenige Minuten über ein ganzes Leben entscheiden. Als Marisa Graf am 16. August um kurz nach sieben Uhr in die Stadtbahnlinie S1 am Karlsruher Hauptbahnhof einsteigt, ahnt sie noch nicht, dass sie nur drei Haltestellen später zur Lebensretterin für einen anderen Fahrgast werden wird, der in der Bahn einen Herzstillstand erlitten hat. Ihre Geschichte soll für den richtigen Umgang mit einer solchen Notfallsituation sensibilisieren.
Wie jeden Morgen nimmt die 33-Jährige an diesem Donnerstag im hinteren Wagen der Bahn Platz, um zum Städtischen Klinikum in der Nordweststadt zu fahren. Dort arbeitet die gelernte Arzthelferin im Sekretariat der Radiologie. Als die Bahn an der Haltestelle Werderstraße zum Stehen kommt, gibt der Fahrer über die Lautsprecher bekannt, dass aufgrund eines Notarzteinsatzes die Fahrt vorerst nicht weiter fortgesetzt werden könne. „Ich ging zunächst davon aus, dass sich der Vorfall irgendwo entlang der Strecke ereignet hat und deshalb die Schienen für längere Zeit durch den Rettungswagen blockiert sind. Das kommt gerade im Stadtgebiet ja schon mal häufiger vor. Deshalb bin ich mit vielen anderen Fahrgäste ausgestiegen und wollte eigentlich zu einer anderen Haltestelle laufen um von dort mit einer anderen Bahn Richtung Klinikum weiterzufahren“, erinnert sich Graf.
Als sie am ersten Wagen der Stadtbahn entlanggeht, fällt ihr an der geöffneten zweiten Tür eine Gruppe von fünf bis sechs Fahrgästen auf, die rund um eine Frau stehen, die in sich zusammengesunken auf ihrem Sitz liegt. „Mein erster Gedanke war weiterzugehen, da ich annahm, dass die Dame schon von den Personen um sie herum versorgt werden würde. Aber irgendeine innere Stimme hat mir gesagt, dass ich in die Bahn wieder einsteige und zu der Frau hingehe.“
Als kurz darauf der Fahrer fragt, ob sich unter den Fahrgästen medizinisches Personal befindet, hat Graf den Ernst der Lage bereits realisiert: „Die äußeren Symptome deuteten auf einen Kreislaufstillstand hin. Die Gesichtsfarbe der leblosen Frau war ganz fahl und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn.“ Sie überprüft sofort die Vitalfunktion der leblosen Frau. „Ich konnte keinen Puls fühlen und keine Atmung feststellen.“ Geistesgegenwärtig legt sie mit Hilfe eines anderen Fahrgastes die Frau auf den Boden in den Gangbereich und beginnt direkt mit einer Herzdruckmassage. Ausdauernd, kraftvoll und gleichmäßig drückt sie das Brustbein der Frau ein, um ihr Herz wieder zum Schlagen zu bringen. „Ich habe in dem Moment einfach nur funktioniert und intuitiv das getan, was ich während meiner Ausbildungen gelernt habe“, erinnert sich Graf, die sich in ihrer Freizeit auch ehrenamtlich beim Deutschen Roten Kreuz im Ortsverein Karlsruhe-Wettersbach engagiert.
Als der alarmierte Rettungsdienst wenig später vor Ort eintritt, schlägt das Herz der 56-jährigen Frau wieder, die sofort in ein Karlsruher Krankenhaus gebracht und dort notoperiert wird. Anschließend können die Ärzte den Zustand der Patientin stabilisieren, die ohne das schnelle Eingreifen von Marisa Graf nicht überlebt hätte. „Nach der Reanimation war ich emotional fix und fertig und musste erstmal mit meinem Mann telefonieren. Als die Ärzte mir dann später mitgeteilt haben, dass die Frau überlebt hat und auf dem Weg der Besserung ist, war dies wie ein Geschenk für mich. Es war wohl Schicksal, dass wir beide an diesem Tag in der gleichen Bahn saßen und ich der Frau helfen konnte“, sagt Graf, bei der sich kurz darauf die Familie der Geretteten meldet und sich für die Rettungstat bedankt.
Auch Dr. Alexander Pischon, Geschäftsführer der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft, nötigt die Notfallhilfe von Marisa Graf höchsten Respekt ab: „Durch ihr entschlossenes und mutiges Handeln hat Frau Graf das Leben eines Fahrgastes gerettet. Mit ihrem Einsatz ist sie ein Vorbild für gelebte Zivilcourage, die in unserer Gesellschaft wichtiger denn je ist. Dies verdient unser aller Dank und Anerkennung.“
Jedes Jahr sterben rund 70.000 Menschen in Deutschland an einen plötzlichen Herzstillstand. Tausende Betroffene überleben nicht, weil bis zum Eintreffen der Rettungsdienste kostbare Minuten ohne Erste Hilfe verstreichen. Denn bei einem Herzstillstand zählt schnelles Handeln. Pro Minute, die bis zum Beginn der Reanimation verstreicht, verringert sich die Überlebenswahrscheinlichkeit des Betroffenen um etwa zehn Prozent. Ohne Blutfluss und fehlende Sauerstoffversorgung beginnt das Gehirn bereits nach nur drei bis fünf Minuten unwiederbringlich zu sterben. Wird umgekehrt bei einem Mensch mit Herzstillstand innerhalb der ersten Minuten Erste Hilfe geleistet, so steigen seine Überlebenschancen um das Zwei- bis Dreifache.
Graf erzählt die Geschichte ihrer Rettungsaktion, weil sie wachrütteln und aufklären will. „Ich habe nie gedacht, mal in so eine Situation zu kommen. Aber es kann wirklich jedem passieren, dass man entweder selbst auf Erste Hilfe angewiesen ist oder als Ersthelfer nicht auf das Eintreffen des Rettungsdienstes warten kann.“ Deshalb sei es umso wichtiger, dass möglichst viele Menschen wissen, wie sie sich in solch einer Lage verhalten.
„Ich fand es erschreckend, wie viele Menschen um diese leblose Frau in der Bahn herumstanden, ohne irgendetwas zu machen. Dabei braucht man keine Angst haben, dass man in solch einer Situation etwas falsch macht. Falsch ist nur, wenn man nichts macht“, so die eindringliche Botschaft von Graf. Selbst Ungeübte können eine Reanimation durchführen. „Inzwischen gibt es auch kostenfreie Apps von Rettungsorganisationen, die zeigen, wie man Erste Hilfe bei einem Herzstillstand leisten kann. Eine gute Plattform ist auch die Facebook-Seite ‚Laienreanimation kann jeder‘, die viele nützliche Tipps und anschauliche Videos bereithält“, empfiehlt sie.
Erste Hilfe bei einem plötzlichen Herzstillstand
Tipp: Der Song von den Bee Gees „Stayin‘ alive, ha ha ha ha stayin‘ alive“ hat genau den richtigen Takt für die Herzdruckmassage.