Stuttgart/Region (dpa/lk) – Die vierte Welle rollt an und die Corona-Inzidenz steigt. In Baden-Württemberg soll das ab sofort keine Rolle mehr spielen. Denn der Südwesten prescht vor und legt ab Montag einen radikalen Kurswechsel hin im Kampf gegen Corona. Dann tritt die neue Verordnung in Kraft. Die Sieben-Tage-Inzidenz, auf die alle seit Ausbruch der Pandemie starren, soll dann Geschichte sein – zumindest ihre Rolle als Gradmesser für Einschränkungen.
Das gesellschaftliche Leben kann wieder in gleichem Umfang stattfinden wie vor der Pandemie. Die Personenobergrenzen für Zusammenkünfte fallen grundsätzlich weg – heißt nach jetzigem Stand: Selbst wenn die Inzidenz Ende August bei 300 liegen sollte, soll man noch eng an eng mit beliebig vielen Leuten im Club tanzen dürfen. Diskotheken, Theateraufführungen und andere Veranstaltungen in Innenbereichen können wieder „unter Vollauslastung“ besucht werden.
Die Regierung hält die Öffnung des gesellschaftlichen Lebens für vertretbar, da bereits viele Menschen geimpft sind. Und die hätten einen Anspruch darauf, ihre Rechte wieder ausleben zu dürfen. Zudem gebe es viel weniger schwere Verläufe der Erkrankung. Dennoch wollen die Behörden die Lage weiter genau beobachten. Sollten sich die Krankenhäuser noch im Verlauf des Sommers wieder mit Corona-Patienten füllen, dürfte die Regierung erneut umsteuern – und möglicherweise die Daumenschrauben wieder anziehen.
Nein. Der rote Faden der neuen Verordnung soll die sogenannte 3G-Regel sein – die neuen Freiheiten gibt es also nur für diejenigen, die geimpft, getestet oder genesen sind. Damit erhöht die Regierung den Druck auf Menschen, die sich immer noch nicht haben impfen lassen. Dort, wo in Innenräumen Abstand unmöglich ist – etwa bei Konzerten, in Clubs und Diskotheken – sollen Ungeimpfte künftig einen verhältnismäßig teuren PCR-Test vorweisen müssen. Den müssen sie dann auch noch selbst bezahlen.
Ein PCR-Test kostet laut Kassenärztlicher Vereinigung satte 61 Euro im Labor. Für Restaurants und Friseurbesuche sollen Antigentests reichen – sie werden nach einem Bund-Länder-Beschluss erst ab dem
11. Oktober kostenpflichtig.
Vermutlich nicht. Denn zumindest für Sportveranstaltungen will das Land wohl an einer Obergrenze festhalten, die diese Woche von Bund und Ländern beschlossen wurde. In Fußballstadien und Sportveranstaltungen mit mehr als 5.000 Zuschauern dürfen demnach maximal die Hälfte der Plätze der Veranstaltungsstätte oder des Stadions besetzt werden. Die Höchstzahl der Zuschauer soll bei 25.000 liegen. Wie mit Musikfestivals mit Tausenden Besuchern unter freien Himmel umgegangen wird, ist – wie vieles mehr – auch noch offen.
Die gebeutelten Clubs freuen sich, endlich wieder die Türen öffnen zu dürfen. Nun habe man endlich eine langfristige Perspektive, die wirtschaftlich tragbar sei, sagte Simon Waldenspuhl von der Interessengemeinschaft Clubkultur Baden-Württemberg. Der mit der 3G-Regel verbundene Kontrollaufwand sei überschaubar. „Die Türsteher sind ja eh da“, sagte der Veranstaltungskaufmann. „Ob wir nur den Ausweis kontrollieren oder auch noch ein Impf- oder Testzertifikat, macht keinen Unterschied.“ Viele Clubs wollten aber erst im September öffnen – weil sie Zeit für die Organisation brauchten und ihnen Personal fehle.
Der Landesverband des Deutschen Bühnenverein hofft, dass für Theaterbesuche keine PCR-Tests erforderlich sein werden. Schließlich unterhalte man sich im Theater nicht wie in Clubs, sagte der Verbandsvorsitzende Ulrich von Kirchbach. Aber die Theater hätten nun eine klare Perspektive, um nach der Sommerpause den Spielbetrieb wieder aufnehmen zu können.
Das Gastgewerbe im Südwesten begrüßt die geplante Abkehr von den Inzidenzwerten. Allerdings betrachte man die kurzfristige Einführung der 3G-Regel mit Sorge, sagte der Sprecher des Hotel- und Gaststättenverbands Baden-Württemberg, Daniel Ohl. Die Vorschrift habe sich bereits in der Vergangenheit als Umsatzbremse erwiesen. Gerade im ländlichen Raum könnte es zu wenig Testmöglichkeiten geben.
Die Landesärztekammer begrüßte die Abkehr von der Inzidenz, die nicht mehr so aussagekräftig sei. Die AHA-Regel und die Impfungen seien aber weiter die wichtigsten Maßnahmen gegen die Pandemie, sagte Kammerpräsident Wolfgang Miller. „Für eine komplette Rückkehr zur Normalität ohne jegliche Schutzmaßnahmen – so sehr es sich alle wünschen – ist es leider immer noch viel zu früh“.
Die Belegung der Intensivstationen mit Covid-Patienten sei ein verlässlicherer Indikator als die Inzidenz, findet auch die Baden-Württembergische Krankenhausgesellschaft. Ein weiterer sinnvoller Indikator für die Zukunft könnte der R-Wert sein, um die Infektionsdynamik früher abzubilden.
Der baden-württembergische Industrie- und Handelskammertag betonte, dass gerade in den Branchen, die jetzt von der 3G-Regel betroffen seien, viele Existenzen noch immer am seidenen Faden hingen. Die Regelung könne für bestimmte Dienstleistungen, Veranstaltungen, die Innengastronomie und Beherbergung Planungssicherheit schaffen, sagte Präsident Wolfgang Grenke. „Sie muss aber auch zwingend einen weiteren Lockdown ausschließen.“
Die AfD-Landtagsfraktion spricht von einer Zweiklassengesellschaft und einer „himmelschreiende Ungerechtigkeit“ mit Blick auf die Unterscheidung von Geimpften und Ungeimpften. Die Tests müssten kostenlos bleiben. FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sagte, bei der Verpflichtung zu PCR-Tests gehe es „mehr um Schikane als um den Schutz der Bevölkerung“.
Die Kommunen hingegen begrüßen die Pläne. Der Hauptgeschäftsführer des Landkreistags, Alexis von Komorowski, warf die Frage auf, ob es genügend Kapazitäten für PCR-Tests gibt. Zudem forderte er für die Ferienzeit großzügige Ausnahmen für Kinder und Jugendliche von den Testvorschriften. „Nach den für Kinder und Jugendliche besonders entbehrungsreichen Pandemiemonaten wäre es mehr als traurig, wenn Jugendfreizeiten und andere Ferienangebote an der Hürde des Testens scheitern würden.“
Die Verordnung befindet sich noch in der Ressortabstimmung. Zwar soll die grundsätzliche Marschrichtung bereits mit dem Staatsministerium abgestimmt sein. Aber bislang handelt es sich noch um Pläne, die sich jederzeit ändern können. Spätestens am Sonntag soll die Verordnung verkündet werden, um am Montag in Kraft zu treten. Ob auch die 3G-Regel dann schon umgesetzt werden muss, ist unklar. Am Donnerstag hieß es, dass eine einwöchige Übergangsfrist vorgesehen sei. Die Verordnung wird dann für vier Wochen gültig sein. Mitte September folgt eine neue Verordnung.
Nein. Man befinde sich immer noch in der Pandemie, sagt der Grüne Gesundheitsminister Manne Lucha. Dass es erneute Einschränkungen geben kann, will auch die Landesregierung nicht ausschließen. Aber künftig will man anders mit der Pandemie umgehen – weniger reagieren, mehr „vor die Lage“ kommen. So soll für die September-Verordnung eine Art Frühwarnsystem erarbeitet werden, das neben der Inzidenz auch die Hospitalisierung und die Auslastung der Intensivkapazitäten berücksichtig.
Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt stetig weiter. Die Zahl der Neuinfektionen lag am Mittwoch bei 21,4 je 100.000 Einwohnern binnen einer Woche. 76,1 Prozent der 2.363 Intensivbetten sind belegt – allerdings nicht nur mit Covid-Patienten. Einzelne Regionen liegen mittlerweile auch wieder über der 35er-Schwelle, wie Mannheim und der Kreis Lörrach – allerdings verliert diese Schwelle dann ab Montag ihre Bedeutung.