Karlsruher Klinikdirektor: "Wir haben eine Pandemie der Ungeimpften"

03. September 2021 , 15:37 Uhr

Karlsruhe/Stuttgart (dpa/mt)  – Neben den Inzidenzen steigt die Zahl der Corona-Intensivpatienten im Südwesten deutlich. Am Donnerstag wurden auf den Intensivstationen in Baden-Württemberg 131 Menschen mit einer Covid-19-Erkrankung behandelt. Das Problem sind dabei in erster Linie die Ungeimpften, denn vor allem die liegen zurzeit in den Krankenhäusern und müssen beatmet werden. Deswegen plant die Landesregierung ab einer Überschreitung von 200 Intensivbetten, was voraussichtlich Mitte nächster Woche erreicht sein wird, erste Einschränkungen für Impfmuffel. In den Augen des Direktord des Städtischen Klinikums in Karlsruhe ist so ein Vorgehen auch aus infektiologisch gesehen sinnvoll.

Geimpfte sind Rarität im Krankenhaus

„Wir haben im Moment eine Pandemie der Ungeimpften“, erklärt Martin Bentz, Klinikdirektor des Städtischen Klinikums in Karlsruhe im Gespräch mit der neuen welle. Das spiegelt sich in den aktuellen Inzidenzen wider. Anfang dieser Woche hat die Inzidenz in Baden-Württemberg bei Geimpften bei 13 pro 100.000 gelegen und bei Ungeimpften bei knapp 150 pro 100.000. „Das heißt, das Risiko zu erkranken hängt extrem stark vom Impfstatus ab“, so der Mediziner. „Es ist eine Rarität, dass wir einen vollständig Geimpften im Krankenhaus behandeln, jetzt in der beginnenden vierten Welle, also seit dem die Impfungen tatsächlich vorhanden sind. Im Moment ist von den zehn Patienten einer vollständig geimpft, der hat allerdings eine Grunderkrankung, die sein Immunsystem enorm schwächt. Da war von vornherein klar, dass seine Impfantwort nicht optimal ausfallen könnte.“

Maßnahmen sind vorausschauende Sache

Obwohl bei den Erwachsenen inzwischen rund 70 Prozent geimpft sind, ist diese Quote immer noch zu niedrig. Trotz allem kann die medizinische Versorgung noch an ihre Grenzen stoßen. Deswegen findet Bentz die geplanten Einschränkungen der Landesregierung gut: „Im letzten Winter kamen wir irgendwann an einen Punkt, da gab es einen gewissen Wettkampf zwischen Covid- und Non-Covid-Patienten. Wir haben gemerkt, wenn wir die Covid-Kapazitäten auf den Intensivstationen weiter erhöhen, dann werden wir irgendwann nicht mehr genug Kapazitäten haben, um alle anderen Patienten noch adäquat zu behandeln. Selbst wenn wir uns auf die ganz dringlichen operativen Eingriffe und auf Notfallmaßnahmen beschränken“, so der Klinikdirektor. „Insofern ist das eine vorausschauende Sache. Wir haben bei Betrachtung der Krankenhausauslastung das Problem, dass wir den Inzidenzen um zwei, drei Wochen hinterherhinken.“

„Geimpft ist deutlich sicherer als getestet“

Wegen der vielen Urlaubsrückkehrer wird bis zum Ende der Sommerferien Mitte September in Baden-Württemberg vermutlich der Grenzwert von 300 belegten Intensivbetten im Land überschritten werden. Ab dann greift die 2-G Regel und es dürfen nur noch Geimpfte oder Genese, zum Beispiel ein Restaurant besuchen. Auch diese Maßnahme ist in den Augen des Mediziners gerechtfertigt. „Ich war jetzt im Sommer einige Tage in Italien im Urlaub. Dort ist die 2-G-Regel schon durchdekliniert worden. Ich hatte das Gefühl, dort ist die Bevölkerung ganz gut zurechtgekommen. Gerade Oberitalien war in der Anfangszeit der Pandemie sehr schwer betroffen und das hat wahrscheinlich Spuren hinterlassen. Geimpft sein ist natürlich deutlich sicherer als getestet sein“, erzählt Bentz.

Auffrischung für einige sinnvoll

Ein großer Teil der Bevölkerung in Baden-Württemberg ist noch nicht einmal das erste Mal geimpft worden. Trotzdem haben diese Woche landesweit bereits die Auffrischimpfungen begonnen. Momentan dürfen sich in erster Linie ältere Menschen und Risikopatienten ein weiteres Mal impfen lassen. Für einige ist das sehr sinnvoll, erklärt der Klinikdirektor: „Wenn wir jetzt einen Patienten betrachten, den wir stationär hatten. Der eine schwere Erkrankung hat, die zu einer Abwehrschwäche führt. Für solche Patienten ist tatsächlich mit Daten belegt, dass durch eine dritte Impfung ein deutlich besserer Impfschutz besteht.“ Dies gelte genauso für Gruppen wie zum Beispiel die organtransplantierten Patienten, so der Klinikdirektor.

„Das ist eine individuelle Entscheidung, die jeder treffen muss.“

Auch Menschen, die ausschließlich Vektorimpfstoffe wie zum Beispiel AstraZeneca bekommen haben, dürfen sich ein weiteres Mal piksen lassen: „Wir wissen, dass AstraZeneca einen etwas schlechteren Impfschutz bietet gegen die Alpha-Variante aber auch gegen die Delta-Variante. Und wir wissen, dass die heterologen Geimpften sehr gut geschützt sind, also die die zuerst mal AstraZeneca und dann einen mRNA-Impfstoff bekommen haben. Besser als die, mit zweimal AstraZeneca. Deswegen ist es naheliegend, diesen Menschen ebenfalls eine dritte Impfung anzubieten. Allerdings gibt es auch da keine Empfehlung der STIKO, das ist eine individuelle Entscheidung, die jeder treffen muss“, erläutert der Mediziner die Situation.

„Wir verstehen bei SARS-CoV-2 noch nicht wirklich, wo es am Ende hingeht.“

Für alle anderen ist die Situation der Auffrischimpfung noch nicht so eindeutig geklärt: „Die spannende Frage ist am Ende, reichen die zwei Impfungen oder sagen wir irgendwann, für alle ist eine Auffrischimpfung der beste Weg. Dafür haben wir einfach noch keine Daten. Wenn sie sich an die herkömmlichen Impfungen erinnern, dann gibt beispielsweise die Masernimpfung, da reichen zwei Impfungen. Eine Impfung und eine Auffrischung. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Krankheiten, da brauchen wir von vorneherein eine Sequenz. Impfung, Wiederholung nach drei, vier Wochen und ein halbes Jahr oder ein Jahr später eine dritte Impfung. Und ich glaube, wir verstehen bei SARS-CoV-2 noch nicht wirklich, wo es am Ende hingeht.“ Auch wenn viele Fragen nicht geklärt sind, ist der Schutz der vollständig Geimpften sehr gut belegt. Deswegen wäre der Mediziner sehr überrascht, wenn Ende dieses Jahres erneut das gesamte öffentliche Leben lahmgelegt werden würde.

Gemischte Gefühle für den Herbst

Wegen der aktuellen Coronalage blickt der Klinikdirektor mit gemischten Gefühlen auf den Herbst. Einerseits sei er optimistisch: „Wir haben schon eine Durchimpfung, die signifikant ist. Sicherlich noch nicht ausreichend. Ich denke, wir werden in einer anderen Situation sein, was die Einschränkungen angeht, als im letzten Winter“, ist sich der Mediziner sicher. „Aber natürlich gibt es auch eine zweite Seite, auf die ich sorgenvoll in den Herbst blicke. Denn es gibt immer noch genug Menschen, die anfällig sind. Wenn wir lockern, wenn das Leben wieder normaler wird, dann besteht natürlich das Risiko, dass aus dieser Gruppe wieder viele doch den Weg ins Krankenhaus gehen müssen.“ Das belastet in erster Linie das bereits erschöpfte Krankenhauspersonal, das jetzt schon seit 1,5 Jahren einer Extremsituation arbeitet. „Flexibel zu reagieren wie im letzten Winter oder wie in der ersten Phase der Pandemie, in der die Mitarbeiter in den Kliniken enormes geleistet haben. In der die Angestellten in ganz andere Einsatzbereiche gegangen sind, als normalerweise, in ganz anderen Zeit-Systemen gearbeitet haben, auf Urlaube verzichtet haben, in ein persönliches Risiko gegangen sind. So eine Bereitschaft werden wir nicht ewig aufrechterhalten können“, so der Klinikdirektor.

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