Jubiläum in Krisenzeiten - Bundesverfassungsgericht wird 70

06. September 2021 , 09:46 Uhr

Karlsruhe (dpa/lk) – Wer mit allen Mitteln um sein Recht kämpft, geht „bis nach Karlsruhe“. 70 Jahre nach seiner Gründung gilt das deutsche Verfassungsgericht als eines der mächtigsten weltweit. Es ist zum Inbegriff letzter Hoffnung geworden – und zu einer hoch geachteten Instanz mit Macht und Einfluss. Aber die große Feier fällt aus.

Die ersten Weichenstellungen

Als das Bundesverfassungsgericht im September 1951 seine Arbeit aufnimmt, ist das Grundgesetz, über dessen Einhaltung es wachen soll, schon mehr als zwei Jahre in Kraft. Artikel 93 weist dem neuen Gericht deutlich mehr Kompetenzen zu, als sie der Staatsgerichtshof der Weimarer Republik je hatte – eine Lehre aus dem Dritten Reich. Aber um die Details des Gerichtsaufbaus oder der Richterwahl, die im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt sind, hatte die Politik noch bis ins Jahr 1951 hinein gerungen. Erst in diesem Gesetz steht, dass das Gericht nicht nur Streitigkeiten zwischen Staatsorganen klären, sondern auch über Verfassungsbeschwerden entscheiden soll, die jede und jeder erheben kann. Das gibt es zum damaligen Zeitpunkt nirgendwo sonst. Das Bundesverfassungsgericht wird damit zum Bürgergericht. Der Sitz soll „vorerst in Karlsruhe“ sein, wie ebenfalls per Gesetz bestimmt wird; dort sitzt seit 1950 schon der Bundesgerichtshof. Am 7. September 1951 konstituiert sich das Gericht unter seinem Präsidenten Hermann Höpker-Aschoff. Gleich zwei Tage später die erste Entscheidung: Im Eilverfahren ordnet der Zweite Senat an, dass die für den 16. September angesetzte Volksabstimmung über die Gründung eines Südweststaates Baden-Württemberg später stattfinden muss. Die Richter brauchen mehr Zeit, um vorher die Rechtslage zu prüfen. Bei einem Festakt mit Bundespräsident Theodor Heuss und Kanzler Konrad Adenauer wird das Gericht am 28. September offiziell eröffnet. Zum Verfassungsorgan, das gleichberechtigt neben Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung steht, erklärt sich das Gericht weniger später gewissermaßen selbst – in der sogenannten Status-Denkschrift von 1952. Bis heute untersteht es keinem Ministerium und ist mit einem eigenen Etat finanziell eigenständig.

Die auffälligsten Veränderungen

Erst seit 1963 bestehen die beiden Senate aus je acht Richtern – vorher waren es zwölf. 1971 wird die Amtszeit auf zwölf Jahre begrenzt. Sie endet spätestens mit dem 68. Geburtstag. Und die Richterschaft ist weiblicher geworden. 1951 gibt es in Karlsruhe nur eine einzige Verfassungsrichterin: Erna Scheffler, die gleich mehrere für die Gleichberechtigung wichtige Entscheidungen mit erarbeiten wird. Ihr Posten im Ersten Senat wird mit Frauen nachbesetzt, aber erst 1994 kommen zwei weitere Richterinnen dazu. Im selben Jahr wird Jutta Limbach als erste und bisher einzige Frau Präsidentin des Gerichts. Der Zweite Senat, dessen Vorsitz sie übernimmt, war bis 1986 ausschließlich männlich besetzt. Heute sind die Zeiten vorbei, in denen spöttisch von „Schneewittchen-Senaten“ (eine Frau, sieben Männer) gesprochen wurde. Seit 2020 sind die Frauen in der Überzahl: vier im Ersten, fünf im Zweiten Senat – darunter Vizepräsidentin Doris König. Gerichtspräsident Stephan Harbarth ist seit Juni 2020 im Amt. Am Sitz in Karlsruhe – der auch für die Trennung von Recht und Politik steht – rüttelt heute niemand mehr. Aber das historische Prinz-Max-Palais, das das Gericht in seinen Anfangsjahren beherbergt hat, ist schnell zu klein geworden. 1969 zieht das Verfassungsgericht an den Rand des Schlossgartens, in das moderne Gebäudeensemble des Berliner Architekten Paul Baumgarten. Der vor einigen Jahren sanierte Komplex beeindruckt bis heute durch seine lichte Bauweise mit viel Glas, die für Transparenz stehen soll. Wer im Park spazieren geht, kann bei Verhandlungen bis in den großen Sitzungssaal schauen.

Die wichtigsten Entscheidungen

Durch seine Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte mit Leben gefüllt und dem demokratischen Verfassungsstaat seine Gestalt gegeben. Als Meilenstein gilt das Lüth-Urteil von 1958. Erich Lüth hatte Veit Harlan („Jud Süß“) als „Nazifilm-Regisseur Nr. 1“ bezeichnet und zum Boykott aufgerufen, die Produktionsfirma verklagte ihn. In ihrem Urteil brechen die Verfassungsrichter eine Lanze für die Meinungsfreiheit und schreiben fest, dass das Wertsystem des Grundgesetzes „als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten“ muss. Das Volkszählungs-Urteil von 1983 umreißt ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Brokdorf-Beschluss von 1985 zu verbotenen Anti-Atomkraft-Demonstrationen gilt als wegweisend für die Versammlungsfreiheit. Das Gericht begleitet die deutsche Teilung und Wiedervereinigung und später das Zusammenwachsen Europas – auch in den dramatischsten Stunden der Finanzkrise. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sorgt Karlsruhe dafür, dass die Politik im Namen der Sicherheit nicht übers Ziel hinausschießt. Zwei Parteien werden in der jungen Bundesrepublik verboten: 1952 die Sozialistische Reichspartei (SRP) und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Das NPD-Verfahren mündet dagegen 2017 in das Urteil, dass die rechtsextreme Partei zwar verfassungsfeindlich, aber zu schwach und unbedeutend ist, um sie aufzulösen. Die Entscheidung, dass ein Kreuz oder Kruzifix in den Klassenzimmern einer staatlichen Schule gegen die Religionsfreiheit verstößt, bringt den Richterinnen und Richtern 1995 körbeweise Protestbriefe ein – genauso wie der „Soldaten sind Mörder“-Beschluss im selben Jahr. Zuletzt sorgt 2020 das Urteil zur Sterbehilfe für Kontroversen. Bis Ende 2020 sind insgesamt 249.023 Verfahren in Karlsruhe anhängig geworden. Mehr als 96 Prozent sind Verfassungsbeschwerden – wobei nur der kleinste Teil (2,3 Prozent seit 1951) erfolgreich ist. Im Moment gehen zwischen 5.000 und 6.000 Verfassungsklagen im Jahr ein.

Die größten Herausforderungen

Die Corona-Pandemie macht nicht nur Verhandlungen schwierig – und ein Bürgerfest oder einen Tag der offenen Tür zum Jubiläum unmöglich. Die beispiellosen Grundrechtseinschränkungen haben auch eine Klagewelle ausgelöst. Bisher haben die Richterinnen und Richter sehr vorsichtig agiert, die allermeisten Eilanträge abgewiesen und der Politik weitgehend freie Hand gelassen. Das bringt ihnen auch Kritik ein. Eine grundsätzliche Antwort auf die Frage, wie weit der Staat in Pandemie-Zeiten gehen darf, müssen sie in den nächsten Monaten geben. Daneben schwelt der Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Mit einem Urteil zu den Anleihenkäufen der Europäischen Zentralbank hat sich Karlsruhe im Mai 2020 über eine Entscheidung des EuGH hinweggesetzt – zum ersten Mal überhaupt. Die EU-Kommission führt deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Die Situation ist verfahren, und für das Verfassungsgericht steht viel auf dem Spiel: Bleibt es eines der einflussreichsten Gerichte der Welt – oder büßt es im vereinten Europa seine Deutungshoheit ein?

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