Region (dpa/lk) – Die Corona-Zahlen sind zu hoch, die Gesundheitsämter kommen nicht mehr hinterher. Deshalb ändert das Land seine Strategie. Die Behörden sollen entlastet werden, sie sollen auf die Nachverfolgung der Kontakte weitgehend verzichten und sich auf einzelne, besonders gefährdete Gruppen und Orte konzentrieren. Dafür wird infizierten Menschen in Baden-Württemberg deutlich mehr Eigenverantwortung zugetraut. Sie müssen sich künftig selbst um die Kontaktnachverfolgung kümmern. Das hinterlässt Fragen.
Bislang war es Aufgabe der Ämter, herauszufinden, wem eine coronapositive Person begegnet ist oder wen sie getroffen haben könnte. Denn Kontaktpersonen mussten unter Umständen in Quarantäne. Gesundheitsämter griffen dazu beispielsweise auf die Kundendaten von Restaurants, Kinos oder Theatern zurück und telefonierten diejenigen Leute ab, die zum selben Zeitpunkt wie die infizierte Person dort waren.
Mit der Zahl der Erkrankten schnellte auch die Masse der Kontakte nach oben. Die Gesundheitsämter erhielten Unterstützung, auch die Bundeswehr half aus. Aber zum einen stießen die Ämter zunehmend auf Geimpfte oder Genesene, die sie gar nicht mehr in Quarantäne schicken können. Zum anderen war das Ermitteln eines Kontaktes ungemein zeitraubend. Viele konnten nicht mehr zeitnah gefunden und informiert werden, teilweise dauerte es mehrere Tage, bis das Telefon klingelte, in vielen Fällen blieb es ganz still. Außerdem kamen etliche Aufgaben der Gesundheitsämter zu kurz, die Trinkwasserüberwachung etwa oder Einschulungsuntersuchungen.
Das Land zieht sich aus der Nachverfolgung weitgehend zurück. Im Behördendeutsch heißt es dann, das „individuelle Fallmanagement“ werde eingestellt. Gesundheitsämter sollen sich stärker auf den Schutz von Risikogruppen zum Beispiel in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern sowie Kitas und Schulen konzentrieren und auf das Management von größeren Ausbrüchen. „Oberstes Ziel ist es, Ausbruchsgeschehen einzudämmen und den Schutz vulnerabler Personengruppen sicherzustellen“, sagt der Amtschef des Sozialministeriums, Uwe Lahl.
Die meisten Infizierten sind daher aufgerufen, ihre Kontakte der vergangenen Tage selbst über die Ansteckung und die Quarantäne zu informieren, sofern diese nicht geimpft oder genesen sind. Das Sozialministerium empfiehlt, bei Symptomen von deren Beginn an 48 Stunden zurück zu rechnen und zu überlegen, wen man in dieser Zeit getroffen hat. Ohne Symptome könne man sich für diese Rechnung am Datum des Tests orientieren. Strafbar mache man sich jedoch nicht, wenn man seine Kontakte nicht informiere.
Zunächst wie stets. Wer Symptome verspürt wie stärkeren Husten, Fieber, ein Unwohlsein und Müdigkeit sollte sich auf eine Infektion mit dem Coronavirus testen lassen, das war bislang ja auch schon so. Für diese kostenlosen Tests gibt es besondere Praxen oder Stationen. Fällt der Antigen-Schnelltest oder PCR-Test positiv aus, ist die zweiwöchige Quarantäne verpflichtend. Für Menschen mit engem Kontakt zu einem Erkrankten oder Haushaltsmitglieder dauert sie zehn Tage. Geimpfte oder Genesene ohne Symptome können sich aber nach fünf Tagen auf eigene Kosten per PCR-Test freitesten und bei einem negativen Ergebnis die Absonderung beenden. Wer einen vollständigen Impfschutz hat oder als genesen gilt, muss nicht in die sogenannte Absonderung.
Da baut das Land jetzt auf Verständnis und Eigenverantwortung. Denn in den meisten Fällen müssen Erkrankte das Informieren jetzt selbst und freiwillig übernehmen. Das Gesundheitsamt kümmert sich künftig nur noch in einzelnen Fällen, den sogenannten vulnerablen Gruppen, darum oder ruft an, wenn es größere Ausbrüche gibt oder diese befürchtet werden. Allerdings fallen ja zahlreiche Geimpfte und Genesene bereits heraus: „Es ist aufgrund der zunehmenden Durchimpfung der Bevölkerung davon auszugehen, dass der überwiegende Anteil der Kontaktpersonen geimpft ist“, sagte ein Ministeriumssprecher. „Und geimpfte Kontaktpersonen müssen nicht in Quarantäne.“
In vielen Kinos oder Restaurants gilt für Besucher bereits die 2G-Regel. Sollte die Alarmstufe in den kommenden ein oder zwei Wochen in Kraft treten, ist das sogar vorgeschrieben. Besucher und Kontakte von dort sind also geimpft oder genesen. Das Sozialministerium verlässt sich zudem darauf, dass man seine Kontakte an gemeinsamen Abenden meist besser kennt. Ungeklärt bleibt aber, was bei Fremden zu tun ist, die einen Tisch mit einer infizierten Person teilen, oder im Zug bei einer längeren Fahrt nebenan sitzen.
Das Land will die Corona-Warn-App ebenso behalten wie die Luca-App. Beides seien ergänzende Bausteine im Kampf gegen die Pandemie wenn es darum gehe, zum Beispiel ein Superspreader-Ereignis durch ein Gesundheitsamt zu untersuchen. Außerdem mache die Corona-Warn-App darauf aufmerksam, wenn man sich in der Nähe eines Infizierten aufgehalten hat, argumentiert das Land.
Bei vielen ist Erleichterung zu spüren, im wahrsten Sinne des Wortes. Alexis von Komorowski, Hauptgeschäftsführer des Landkreistags, lobt die „große Vor- und Umsicht des Landes“. Es sei ein wichtiges Signal, dass das Land die Gesundheitsämter bereits im nächsten Haushalt personell massiv stärken werde. Auch Brigitte Joggerst, die Chefin des Gesundheitsamtes beim Landratsamt Enzkreis, zeigt Verständnis: „Die Nachverfolgung bindet sehr viel Zeit und Personal und verliert, je später sie erfolgt, zunehmend ihre Wirksamkeit im Kampf gegen die Pandemie“, sagt sie. Joggerst appelliert „dringend an die Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen“, sich nach einem positiven Test auch zurückzuziehen.
Nein, keineswegs. In Hamburg zum Beispiel und in einigen anderen Bundesländern müssen Corona-Infizierte ihre Kontakte außerhalb von vulnerablen Gruppen bereits selbst informieren. Ermöglicht wird das durch eine Richtlinie des Robert Koch-Instituts zur Kontaktnachverfolgung, in der eine Fokussierung auf Situationen mit hohem Übertragungspotenzial empfohlen wird.