«Deutlich besser als unser Ruf» - Pforzheim und die starke AfD

19. Juli 2024 , 08:55 Uhr

Pforzheim (dpa/mk) – Vielerorts hat die AfD bei den Gemeinderatswahlen zugelegt. In Pforzheim wurde sie sogar die stärkste Kraft. Das wirft Fragen auf. Eine Annäherung.

Rechte Kräfte traditionell stark

Dass in Pforzheim eher rechts gewählt wird, ist nicht neu. Früher waren NPD und Republikaner hier stark. Nun sorgt die AfD mit guten Ergebnissen für Aufsehen. Und jedes Mal wird gefragt: Warum? Die Antwort ist komplex.

Da ist zum einen die Statistik: Pforzheim hat bei rund 130.000 Einwohnern unter den Stadt- und Landkreisen in Baden-Württemberg mit 31,2 Prozent den höchsten Ausländeranteil und führt mit 6,4 Prozent beim Anteil der Schutzsuchenden die Liste an. Nach dem neuen Zensus liegt der Anteil an Eingewanderten sogar bei 39 Prozent.

«Viele Menschen sind nicht mit der Migrationspolitik zufrieden», sagt Hans-Ulrich Rülke von der FDP-Fraktion im Gemeinderat. Auch Andreas Renner von der CDU sieht in der «Angst vor Fremdartigen» einen Grund für die Stärke der AfD. Diese sei aber auch in Stadtteilen mit vielen Migranten stark.

Schnell geht es in Gesprächen zudem um Sicherheit. Die Stadt sei aber in der Wahrnehmung vieler unsicherer als es der Realität entspreche, sagt SPD-Stadträtin Annkathrin Wulff. Zahlen der Polizei belegen das: Im Verhältnis zur Einwohnerzahl sei Pforzheim die sicherste kreisfreie Großstadt im Südwesten.

Weniger rechte Straftaten

Aber sind rassistische Ressentiments in Pforzheim besonders weit verbreitet? Die Zahl der Straftaten im Bereich politisch motivierter Kriminalität war laut Polizeipräsidium 2023 im Vergleich zum Vorjahr deutlich rückläufig – auch im rechten Spektrum entgegen dem dort ansteigenden Landestrend. 27 Fälle führt die Statistik hier auf. Bei als antisemitisch und ausländerfeindlich eingestufter rechter Kriminalität war es je keine Handvoll an Fällen.

Zudem berichten Vertreter anderer Parteien, dass die AfD bisher nicht durch Populismus, Hass und Hetze im Gemeinderat aufgefallen sei. Die Abgeordneten träten eher ruhig auf, hielten sich bedeckt. Die AfD-Fraktion selbst ließ eine Anfrage unbeantwortet.

Rülke sieht Russland-Deutsche, Spätaussiedler und ihre Nachfahren als zweite große Gruppe der AfD-Wähler. «Rechtsnationales Denken zeigt sich immer dann besonders stark, wenn die Menschen Abstiegsängste entwickeln.» Er spricht von einer Parallelgesellschaft, die russisches Fernsehen und damit Wladimir Putins Propaganda schaue – und mit der AfD eine russlandfreundliche Partei wähle.

Geschichte prägt

Doch einiges ist wohl eine Mentalitätsfrage. Selbst Pforzheimer sagen, dass hier gerne «gebruddelt» wird. Ein Stück weit lässt sich das auch mit der Geschichte der Stadt erklären. Als am 23. Februar 1945 die Briten die Stadt binnen 22 Minuten weitgehend zerstörten und mit mehr als 18.000 Menschen etwa jeder dritte Einwohner starb, hinterließ das nach Rülkes Worten «verwundete Seelen».

Schon 1953 war Pforzheim wieder Hauptlieferant der Welt für Schmuck und Silberwaren. Noch heute wird der Titel Goldstadt hochgehalten – fast wie eine Art Gegenkonzept zum Stempel «AfD-Hochburg». Später wanderte die Schmuckindustrie großflächig ab. Kaufkraft und Arbeitsplätze gingen verloren. Die Anteile an Arbeitslosen und Bürgergeld-Empfängern sind heute höher als im Landesschnitt, das durchschnittliche Einkommen niedriger.

«Wir sind deutlich besser als unser Ruf»

Dass die AfD stärkste Kraft ist, liegt wohl auch an der mit 46 Prozent niedrigen Wahlbeteiligung. Zudem spalteten sich aus der bisher größten Fraktion der CDU Mitglieder ab und traten eigens an – erfolgreich. Das konservative Lager bleibt also stark.

Egal wie die AfD künftig im Gemeinderat auftritt, Vertreter anderer Parteien schließen eine Zusammenarbeit aus. Wenngleich man nicht werde verhindern können, dass die AfD gelegentlich für Anträge demokratischer Parteien stimme, sagt FDP-Mann Rülke.

SPD-Stadträtin Wulff sagt: «Die demokratischen Parteien werden enger zusammenarbeiten müssen.» CDU-Stadtrat Renner macht deutlich, dass die AfD nicht im Alleingang Dinge umsetzen könne. Zudem gebe es viele Menschen und Initiativen in Pforzheim, die Vielfalt feierten und für ein gutes Miteinander einstünden. «Wir sind deutlich besser als unser Ruf.»

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